Jüdisches Leben in Deutschland – Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Fünf junge Menschen sitzen an einem Tisch.
Angeregte Diskussion: Respekt Coachin Lubov Foos reflektiert mit den jungen Menschen Eindrücke aus dem Rundgang. © Servicebüro Jugendmigrationsdienste

Zahlreiche Gesichter und ihre Geschichten sind auf Ausstellungstafeln und digital auf den Bildschirmen im Stadtteilbüro Lobeda West in Jena zu sehen. Die Ausstellung „L’Chaim – Auf das Leben“ der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e. V. gibt Einblicke in Leben, Alltag und Familiengeschichten jüdischer Menschen. Sie sind sowohl noch ganz jung als auch bereits sehr alt. Es sind Holocaust-Überlebende dabei, Sportler*innen, Forscher*innen und Wissenschaftler*innen, die in der ganzen Welt verstreut leben. Und die neun Jugendlichen vom Staatlichen Berufsbildenden Schulzentrum (SBSZ) Jena-Göschwitz, die nun im Rahmen ihres Schulprojekts hergekommen sind, nehmen die Lebensgeschichten gespannt auf. Dabei scheinen die Erzählungen, die die angehenden Chemisch-Technischen Assistent*innen verfolgen, weit weg von ihrer eigenen Lebensrealität. „Was hat das mit mir zu tun?“, könnte man fragen. Und genau um diese Frage geht es. Denn die Antwort lautet: sehr viel.

Lubov Foos sitzt am großen Tischkreis bereit. Sie ist Mitarbeiterin im Programm Respekt Coaches beim Jugendmigrationsdienst Jena (AWO) und begleitet die jungen Menschen im Rahmen des Projekts „Jüdisches Leben in Deutschland – Zwischen Vergangenheit und Gegenwart“. Über mehrere Wochen befasst sich die Klasse im Rahmen des Deutsch- und Sozialkundeunterrichts damit: Um zu lernen, wie Vorurteile entstehen, erkannt und abgebaut werden können. Um Diskriminierung entgegenzuwirken. Aber auch, um den Zusammenhalt zu stärken.

„Es gibt viele Vorurteile“

Dann füllt sich der Stuhlkreis und Lubov Foos fragt in die Runde: „Wie geht es euch?“ Das Gewusel legt sich langsam. „Spannend, diese Geschichten zu erfahren“, klingt es aus der Runde. Und schon füllen sich die Notizblöcke. Die 16- bis 25-Jährigen sollen in Kleingruppen notieren, was ihnen in der Ausstellung besonders aufgefallen ist. Ein Schüler blickt schließlich auf und sagt: „Viele werden nur über die Religion und als eine Minderheit definiert. Und es gibt viele Vorurteile.“ Dabei sind viele der Menschen nach eigenem Bekunden gar nicht religiös. In ihrem Leben sind andere Dinge viel wichtiger. Traditionen, Feste, Familienbande und Werte sind sehr oft auch nicht-religiös geprägt und formen die Identität der Menschen.

Junge Menschen sitzen an einem Tisch und schreiben.
Vor dem Ausstellungsrundgang schreiben die Teilnehmenden auf, was sie mit dem Jüdischsein und Judentum assoziieren. © Servicebüro Jugendmigrationsdienste

Und schon steht eine wichtige Frage im Raum: Wer bestimmt eigentlich darüber, wer wir sind? Anders gefragt: Dürfen Andere unsere Identität bestimmen? Lubov Foos fragt: „Warum ist so etwas übergriffig?“ Und nach kurzem Überlegen ist die Antwort klar: „Man reduziert einen Menschen auf diese Weise. Und man steckt alle in eine Schublade“, erklärt ein Schüler. Dabei sollte klar sein, so die Respekt Coachin, dass nur eine*r die Entscheidungskraft hat, zu sagen, wer man ist: „Ich selbst.“

Steffi Weißer unterrichtet die SBSZ-Klasse und begleitet sie im Rahmen des Projekts. „Wir hatten überlegt: Was können wir mal als Gruppe gemeinsam machen?“, so die Deutschlehrerin, der die Integration gesellschaftspolitischer Themen in den Unterricht wichtig ist. Die Ausstellung zu jüdischem Leben im nahegelegenen Stadtteilbüro erschien ihr zu dem geplanten Zeitzeugengespräch passend. „Es ist für uns auch eine Möglichkeit, Teambuilding zu machen und den eigenen Stadtteil besser kennenzulernen.“ Und: Mit der Idee wird an ein hochaktuelles Thema angeknüpft. Seit der Nahostkrieg wieder ausgebrochen ist, wird viel über Israel und Palästina geredet. Der Raum für politisch aufgeladene und vorurteilsbehaftete Auseinandersetzungen mit dem Judentum ist groß.

Austausch mit Zeitzeug*innen

Im Vorfeld haben Lubov Foos und Steffi Weißer bereits mit anderen Klassen zu dem Thema gearbeitet, die systematische Judenverfolgung im Nationalsozialismus besprochen und mit Schülerinnen und Schülern an Zeitzeug*innengesprächen teilgenommen. Dabei berichten Holocaust-Überlebende über ihre Erfahrungen, die Jugendlichen hören zu, fragen nach. So werden Verständnis, Empathiefähigkeit und eigenes Engagement gestärkt.

Auch die Klasse der angehenden Chemisch-Technischen Assistent*innen nimmt nach dem Ausstellungsbesuch an einem digitalen Zeitzeug*innengespräch teil. Sie sprechen mit der Holocaust-Überlebenden und ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland Charlotte Knobloch. Welche Eindrücke hinterlassen ihre Erzählungen bei den jungen Menschen? Lubov Foos und Steffi Weißer geben im Rahmen des Deutschunterrichts Raum für Reflexion. „Es ist krass: Vom Schicksal eines Menschen zu erfahren, der das selbst erlebt hat, bewegt einen viel mehr, als nur Dokus über all den Schrecken und das Leid zu sehen“, heißt es aus der Klasse. Zu den Entwicklungen, die zur NS-Diktatur geführt haben, teilt ein anderer Schüler seine Gedanken: „Ich finde es sehr wichtig, in einem Land zu leben, das seine Vergangenheit aufarbeitet und heute versucht, seine Demokratie zu schützen – damit so etwas nie wieder passieren kann.“

Sieben junge Menschen
„Zusammen“ – Das ist nicht nur ein Aspekt der Ausstellung; der gemeinsame Projektausflug stärkt den Klassenzusammenhalt. © Servicebüro Jugendmigrationsdienste

Dieser direkte Austausch ist wichtig, weiß Lubov Foos. So stärkt das bundesweite Programm Respekt Coaches der Jugendmigrationsdienste das Demokratieverständnis und ist ein wichtiger Baustein in der Primärprävention. An Schulen und in Stadtteilen, wo es Heranwachsende gibt, die sich offen rechtsextrem zeigen und sich bereits in etablierten Strukturen bewegen, können die Pädagog*innen junge Menschen erreichen und Radikalisierungsprozessen vorbeugen. Lubov Foos nennt ein weiteres Beispiel: „Wir haben in der Diskussion festgestellt, dass unangebrachte Holocaustvergleiche und Verschwörungserzählungen während der Corona-Pandemie weite Verbreitung fanden“. Die Klasse hat darüber gesprochen, wie man im Zuge dessen Verschwörungserzählungen mit antisemitischen Klischees begegnet – und wie diese erkannt und dekonstruiert werden können.

Ein Beitrag von: Servicebüro Jugendmigrationsdienste