Offener Lerntreff als Türöffner zur Integration: Erfolgsmodell seit 12 Jahren

Zwei Frauen und zwei Männer neben einem Plakat.
Ehsanalla Momen (v. l.) und Rawaa Oyoun sind Stipendiaten des Förderprogramms „Talent im Land“. Melanie Brumann und Jürgen Kohler haben sie dabei unterstützt. © Weicheng Chen

„Das ist eine mega Auszeichnung“, freut sich Sozialarbeiterin Melanie Brumann über den Erfolg der 17-jährigen Rawaa Oyoun und des 18-jährigen Ehsanalla Momen. Beide haben eines von 55 Stipendien beim Förderprogramm „Talent im Land“ erhalten, das sich für gerechte Bildungschancen für begabte Schüler*innen in Baden-Württemberg einsetzt. Mit finanzieller Unterstützung, weiterbildenden Seminaren und individueller Beratung werden sie dabei auf dem Weg zur Fachhochschulreife oder zum Abitur begleitet. Träger sind die Baden-Württemberg Stiftung und die Josef Wund Stiftung. Dreh- und Angelpunkt für diesen Erfolg: der offene Lerntreff des Jugendmigrationsdienst Ulm (IN VIA). Für beide, die gebürtige Syrerin und den Afghanen, ist er ein fester Anlaufpunkt. Dort erhalten die Jugendlichen nicht nur Hilfe bei Bewerbungen, sondern auch Lernunterstützung und Beratung.

Niedrigschwelliges Angebot

Über den offenen Lerntreff sagt Organisatorin Melanie Brumann, die mit Kornelia Zorembski und Beate Krieger für den JMD Ulm tätig ist: „Es ist ein niedrigschwelliges Angebot.“ Man müsse sich nicht festlegen, komme mit den Hausaufgaben und erhalte Hilfe. Zwischen 15 und 20 Schüler*innen würden den Lerntreff im Schnitt besuchen. Betreut werden sie von so genannten Lernbegleiter*innen. Das Besondere: „Immer mehr von ihnen haben selbst eine Fluchtgeschichte“, sagt die Sozialarbeiterin.

Ehsanalla Momen, von allen Ehsan genannt, ist einer von ihnen. 2022 ist er mit seiner Mutter und zwei Geschwistern nach Deutschland gekommen. „Man kann nicht so schnell in eine Kultur hineingehen oder sich so schnell gewöhnen“, meint er aus eigener Erfahrung. „Es ist schwierig wegen der Sprache“, erzählt Ehsan, der in Kabul nur die neunte Klasse beenden konnte. „Viele haben Probleme“, resümiert Melanie Brumann. Sie spricht von großen Hürden, ins deutsche Schulsystem überzutreten. Doch genau da kann der offene Lerntreff des JMD helfen. Durch das Angebot würden sich darüber hinaus auch erste Beratungskontakte ergeben. 

Ein junger Erwachsener und zwei Frauen sitzen an einem Tisch.
Klarissa Dehring und Melanie Brumann (v. l.) vom JMD Ulm unterstützen Aref Mohammad bei seinen (Lern-)Zielen. © Manuela Rapp

Ein Geben und Nehmen

Einer der drei Lerntreff-Standorte ist das Ulmer Bürgerhaus-Mitte. Zweimal wöchentlich füllen sich die beiden Räume im ersten Stock. Bücher, Blätter auf den Tischen, leise Erklärungen – hier wird gelernt. Ungefähr 15 Schüler*innen dürften es an diesem Mittwoch sein. Einer von ihnen: der 18-jährige Aref Mohammad. „Ich kann meine Hausaufgaben hier machen“, erklärt er mit Hilfe seiner Lernbegleiterin Muzhda. Beide stammen aus Afghanistan. „Es ist schön, mit anderen zu lernen.“ Sein Ziel: Die Schule abschließen und eine Ausbildung als KfZ-Mechatroniker beginnen. Lernbegleiterin Muzhda hat in ihrer Heimat Gesundheitswesen studiert. Für die 24-Jährige, die sich hier ehrenamtlich engagiert, ist es ein Geben und Nehmen. Auch sie werde unterstützt, sagt sie – etwa in Deutsch. Um ihren Beruf ausüben zu können, brauche sie Niveau B2.

Für Melanie Brumann ist es „ein Erfolg, dass Lernbegierige einen Ort zum Lernen haben.“ Die Idee dazu kam von der Stadt Ulm, der katholische JMD-Träger IN VIA griff sie auf und bewarb sich. „Lerntreffs sowie ein großes Sprach- und Lernförderangebot sind ein relativ großer Projektschwerpunkt bei uns.“ Viele, die in den offenen Lerntreff kommen, besuchen laut Brumann Deutschlernklassen. „Das hat sich etabliert“, erläutert sie. Dort arbeiten sie und ihre beiden Kolleginnen mit Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen zusammen, besuchen Schulen, informieren über ihre Angebote. Aber auch über Mund-zu-Mund-Propaganda werde Werbung gemacht. Für die Organisatorin des Lerntreffs ist das Angebot eine Tür zur Integration. „Das hier ist ein Netzwerk für Hilfe, das alle trägt.“ Ziel sei es, Bindungen zu stärken. Wer sich sicher fühle, sei offener für Integration.

Umgangssprache Deutsch

Die meisten Lernenden kommen derzeit aus Syrien und Afghanistan, „aber wir bilden alle Zuwandernden ab“, so Brumann. Vor allem bildungsorientierte 16- bis 18-Jährige, die eine Ausbildung erreichen wollen, würden vorbeischauen. Umgangssprache ist Deutsch; manchmal sei es jedoch einfacher, bestimmte Lerninhalte in der Muttersprache zu erklären. Klarissa Dehring kann dies als Ansprechpartnerin vor Ort einschätzen. Sie kennt die Bedarfe der Lernenden und die Unterstützungsmöglichkeiten der Lernbegleiter*innen – und kann so die besten Lernteams „matchen“. Brumann ist überzeugt: „Unsere Lernförderung fruchtet.“ Besonders stolz ist sie dabei auf die Stipendiat*innen Rawaa und Ehsan.

Eine junge Frau und ein junger Mann.
Rawaa und Ehsan bei der Festveranstaltung des Stipendienwerks „Talent im Land“. © Jürgen Kohler

Die beiden sind ehrgeizig und motiviert – beste Voraussetzungen, um ihre beruflichen Pläne zu verwirklichen. „Ich habe die Chance, hier zu lernen“, freut sich Rawaa. Es ist das Wichtigste im Leben für die 17-Jährige, zu deren Hobbys Zeichnen, Volleyball und Klavierspielen zählen. So ähnlich formuliert es auch Ehsan: „Ich bin wegen der Schule und des Lernens hier in Deutschland.“ Beide besuchen die zehnte Klasse der zweijährigen Berufsfachschule in Ulm und möchten Medizin studieren. Rawaa lebt seit 2022 mit Mutter und zwei Brüdern in Deutschland. Teile der Familie seien in der Türkei geblieben. Rawaa sagt, dass sie Familie und Freunde vermisse, erzählt aber auch von neuen Bekannten, „die sehr lieb sind.“ Heimweh ist ein Gefühl, das Ehsan auch kennt, aber: „Ich möchte mein Leben selbst gestalten“, betont der Afghane, der gerne Fußball spielt, liest und wandert.

Unterstützung und Ermutigung

Der JMD ist für die beiden ein fester Anlaufpunkt. „Früher war ich Schüler, jetzt bin ich Lernbegleiter“, sagt Ehsan. Der 18-Jährige bedankt sich für die vielen verschiedenen Angebote und Deutschkurse. „Wenn ich Hilfe brauche, wenn ich Probleme habe, bekomme ich hier immer Unterstützung und Ermutigung“, unterstreicht auch Rawaa.

Text: Servicebüro Jugendmigrationsdienste